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Tschernobyl - 25 Jahre danach

Tschernobyl – vom Inferno zum nuklearen Absurdistan

(15.4.2011) Jährlich erinnert der Bund Naturschutz an die Katastrophe von Tschernobyl, ausgerechnet wenige Wochen vor dem 25. Jahrestag wurde durch die Ereignisse von Fukushima das damalige Trauma in das öffentliche Bewußtsein zurück geholt. Martin Pavlik ist Osteuropahistoriker und beschäftigt sich seit zehn Jahren intensiv mit den Atomanlagen Osteuropas und ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen. Die BN-Kreisgruppen von Traunstein und Berchtesgadener Land hatten ins Haus Chiemsee in Teisendorf zum Vortrag eingeladen.

 In ihrer Einführung informierte BN-Kreisvorsitzende Rita Poser über wissenswerte Hintergründe der radioaktiven Belastung. So hatte am 31.3.2011 die taz über den Informations-Gau bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch den seit 1959 bestehenden Geheimvertrag mit der Internationalen Atomenergie-Behörde (IEAO) informiert.

taz- der Informations-Gau

Außerdem zeigte Poser einige Folien zur radioaktiven Belastung seit den oberirdischen Atomwaffentests in den 50 Jahren bis 2001.

„Als Historiker war es mir ein besonderes Anliegen, den Ort meiner Forschung einmal im Leben zu besichtigen. Heute weiß ich, dass es kein zweites Mal geben wird,“ so Pavlik, zu deprimierend war das, was er dort, nur 1.300 km von uns entfernt, sah. Dabei arbeiten noch heute 3500 – 4000 Menschen in dem streng bewachten und umzäunten Gebiet, denn man kann die Anlagen nicht einfach nur abschalten und dann gehen. Der Gau passierte am 26. April 1986 in Reaktor 4, und Reaktor 3, der unmittelbar an den havarierten Reaktor anschließt, wurde noch bis zum Jahr 2000 betrieben. An weiteren Kraftwerksblöcken, die in unmittelbarer Nachbarschaft entstehen sollten, wurde bis 1988 gebaut. Heute ragen ihre Kräne als überdimensionierte Ruinen in den Himmel. Feuerwehrautos, Krankenwagen, Einsatzwagen, Bulldozer, alles Gerät damals hoch verstrahlt, wurde am Rande der Sperrzone auf einer Art Friedhof gelagert.

Leben in der Sperrzone

Das war für einige ein preiswertes Ersatzteillager und niemand weiß heute, wohin die strahlenden Teile verschwanden und wieder eingebaut wurden. Eine Ortschaft in der Sperrzone war so hoch verstrahlt, dass sie praktisch untergepflügt wurde und Prypjat, wo einst 50.000 Menschen ihr zu Hause hatten, wurde zur Geisterstadt. Die heutige Sperrzone ist doppelt so groß wie das Saarland, einige Menschen sind auf ihre Höfe zurückgekehrt und werden dort geduldet, aber sie sind ohne Status. Es gibt weder Strom noch Wasseranschluss, kein Telefon und keine medizinische Versorgung. Traurig ist auch das Schicksal der Liquidatoren, die damals zu Hunderttausenden aus dem ganzen Sowjetreich herangekarrt wurden um den Brand zu löschen, denn die Roboter versagten unter der hohen Strahlenbelastung sofort ihren Dienst. Die Diktatur missbrauchte die Menschen als „Bio- Roboter“ und dankte ihnen mit Orden und Medaillen, die die Überlebenden heute aus Not für 5 Euro verkaufen. Viele haben mit ihrem Leben, viele mit ihrer Gesundheit dafür bezahlt, dass auch wir in Westeuropa nicht noch stärker verstrahlt wurden.

Die Zahl der Opfer

Die Frage nach der Zahl der Opfer konnte der Referent nicht beantworten, aber BN-Kreisvorsitzende Rita Poser informierte, dass es schon seit 1959 ein der Öffentlichkeit vorenthaltenes Abkommen zwischen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Atomenergie-Organisation (IEAO) gibt, nach dem sich die WHO verpflichtete, bevor sie ein Forschungsprogramm oder eine Maßnahme zu Folgen radioaktiver Strahlung einleitet, die IEAO zu konsultieren und die Fragen einvernehmlich zu regeln. Deshalb trat die WHO auch in Fukushima kaum in Erscheinung und nach Angaben der IAEO liegt die Zahl der Todesopfer des Supergaus von Tschernobyl bei weniger als 50, die WHO spricht von bis 9000 Menschen, die infolge der Strahlenexposition sterben könnten. Dagegen sprechen unabhängige Wissenschaftler von 900.000 – 1,8 Millionen Menschen. So erklärt sich auch die Frage aus dem Publikum, ob wir diesmal zuverlässiger informiert werden, denn viele erinnern sich noch genau an die desaströse Informationspolitik damals. Wie der Referent berichtete, sind Jodtabletten in den Apotheken derzeit stark nachgefragt. Dieses irrationale Verhalten ist aber verständlich, denn keiner von uns kann in Zeiträumen von 1000 oder gar 24.000 Jahren denken, das ist die Halbwertszeit von Plutonium. Der nach dem Gau errichtete Sarkophag zum Einschluss der Radiaktivität ist schon jetzt wieder brüchig und von der neuen Umhüllung gibt es bisher nur Pläne. Immerhin sind dafür im Bundeshaushalt 2010 1,5 Millionen Euro eingestellt.

Kosten trägt die Gesellschaft

Nutzen und Gefahren wurden in der Debatte unterschiedlich bewertet. Neben Ansichten, dass die Katastrophen nicht vergleichbar sind und Kernenergie eigentlich sicher ist und die Energie benötigt wird, sah die Übergroße Mehrheit, dass die Kosten nur deshalb günstig sind, weil viele Kosten von der Gesellschaft getragen werden müssen. Herr Pavlik erinnert hier an das Lager Asse im Salzstock, das durch Wassereinbruch und korrodierende Behälter zur Gefahr geworden ist. Nach ersten Schätzungen kostet es den Staatshaushalt 2 Milliarden Euro.

Ernüchterung machte sich auch breit, als Herr Pavlik über die Renaissance der Atomenergie in der Ukraine berichte. Nachdem Rußland infolge der Orange-Revolution für Demokratie wiederholt die Gaslieferungen in die Ukraine ausgesetzt und die Preise dramatisch erhöht hatte, setzt man wieder verstärkt auf Atomstrom und neue Kraftwerke werden geplant. Nach dem Prinzip Hoffnung erträumt man sich damit westlichen Luxus und Lebensstandard, es erinnert an den Lottospieler und die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wie Edwin Hertlein von den Grünen vorrechnete, ist alle 25 Jahre eine Supergau zu erwarten, es kann aber auch mal 100 Jahre dauern.

 

Als Fazit stellte die BN-Kreisvorsitzende fest: Es ist noch ein sehr langer Weg, für mehr Sicherheit die Atomkraftwerke der Welt abzuschalten und durch regenerative Energie zu ersetzen.


Für Rückfragen: Rita Poser, Tel. 08652 978767